(Sophie) Rauf. Runter. Rauf. Runter. Rauf. Runter. Mehr ist es ja eigentlich nicht. Irgendwann am vierten Tag ärgere ich mich, dass ich nicht zählen kann, wie oft ich die Pedale auf dieser Tour gedreht habe. Es ist einer dieser Momente, in denen mir sehr bewusst wird, dass mehr als 7 Stunden Radfahren am Tag auf Dauer irgendwie ungesund ist. Aber es hilft nichts, denn wir haben erst die Hälfte geschafft. Die Hälfte von 890 Kilometern, 20 000 Höhenmetern, 21 Pässen und 7 Tagen.
Die Schwalbe Tour Transalp (Powered by Sigma, wie die Moderatoren am Start nicht müde werden zu betonen, auch wenn der komplette Name ab Tag 2 zu einem undeutlichen Genuschel verschwimmt) ist das größte Jedermann-Etappen-Rennen Europas. 1200 Radler kämpfen sich von Sonthofen bis Arco, von Deutschland über Österreich und die Schweiz nach Italien einmal quer durch die Alpen. Das Event ist von vorne bis hinten perfekt durchorganisiert, jede Tasche, jedes Lied, jede Nudel hat ihren fest vorgesehenen Platz, so dass man sich als Teilnehmer um eigentlich nichts zu kümmern braucht – außer natürlich darum, diese fast 900 Kilometer zu bewältigen.
Doch der größte Gegner ist nicht die Strecke, nicht die Kilometer, nicht die Höhenmeter, selbst der Gavia-Pass, den man locker 3 Stunden lang rauf fährt, ist es nicht. Die wahre Herausforderung dieser Tour ist die Sonne. Unbarmherzig knallt sie von einem wolkenlosen Himmel herunter, schwitzen ist kein Ausdruck für die wasserfallartige Flüsseigkeitsabsonderung, die unsere Trikots jeden Tag aufs Neue zu Salzseen macht. Wir reden nicht viel, manchmal 2 Stunden lang kein Wort. Christian fährt in zuverlässigem Abstand von 3 Metern vor mir her, fast zeitgleich drücken wir uns aus den Sätteln, wenn die Steigung die 10%-Marke überschreitet, setzen uns nach den Rampen wieder hin und strampeln weiter bis zur nächsten Abfahrt. Befreiung.
Es sind die Belohnungen für die endlosen Höhenmeter bergauf. Wir rauschen mit einer Geschwindigkeit bergab, die einen Blick auf den Tacho zum unnötigen Risiko macht, wir sind sehr schnell. Am dritten Tag haben wir den Ruf der „Rowdies“ weg, was aber weniger an unserer herausragenden Abfahrtstechnik liegt, als vielmehr an der mangelnden Risikobereitschaft der restlichen Teams um uns herum. Wir starten an Tag eins auf Position 515 und finden uns jeden Morgen brav in Startblock D ein, um zu „Let me entertain you“ von Robbie Williams zu starten. Es mag primitiv klingen, aber die Melodie setzt irgendwelche Glückshormone frei, unterstützt durch das Geräusch von hunderten Radschuhen, die um uns herum in die Pedale einklicken. „Das wird eure Etappe, euer Tag, genießt es.“ Gänsehaut. Primitiv, ja, aber auch schön. In Imst jubeln uns 700 Kinder auf den ersten Kilometern zu, In Davos ist die halbe Stadt gesperrt, in Aprica stehen ungläubige Touristen angesichts dieses Spektakels am Straßenrand und klatschen – für uns, die wir in kaum nennenswertem Tempo diese Etappen hinter uns bringen werden. Für mich, die ich seit nicht einmal 5 Monaten ein eigenes Rennrad habe und noch dazu eines, das wahrscheinlich insgesamt nicht so teuer war wie allein die Schaltgruppe des Durchschnittsteilnehmers. Ich lächle ihnen zu, winke, klatsche Kinderhände ab.
Die Euphorie ist wichtig für die Momente, in denen nichts mehr geht. Gleich am ersten Tag zwingt uns das Hahntennjoch am Ende der 120-Kilometer-Etappe fast in die Knie, am zweiten Tag quälen wir uns stundenlang den Flüelapass hoch, der dritte Tag wird zu meinem persönlichen Gradmesser, obwohl die Etappe „gar nicht schlimm ist“, wie am Abend zuvor beim Essen alle versichern. Nicht so schlimm heißt: nur 3 Pässe, nur 133 Kilometer und nur 3073 Höhenmeter – und man ist auch vorher nur 2 Tage lang ungefähr das gleiche gefahren. Na dann …
Fies an so einem Etappenrennen ist, dass man sich nie kaputt fährt und trotzdem irgendwann kaputt ist. 100% geben geht nicht, weil sonst am nächsten Tag nichts mehr da ist und dennoch bin ich an diesem dritten Tag irgendwann leer. Es fühlt sich ungefähr so an, als müsstest du unbedingt etwas essen, weil du total unterversorgt mit allem von Kohlenhydraten über Vitaminen bis Ballaststoffen bist, was der Körper so zum Arbeiten braucht. Doch du kannst es nicht, weil sämtliche Organe inklusive des kompletten Verdauungstrakts dir aufgrund akuter Erschöpfung längst den Dienst versagt haben. Du stirbst nicht am Berg, sondern du vegetierst in irgendeinem seltsamen Zustand vor dich hin. Zu müde zum Sterben – so ungefähr fühlt sich das an. An diesem Abend kann ich kaum essen, ich zittere, glaube nicht, dass ich den Rest der Tour schaffe, lege mich hin, stehe wieder auf, gehe aufs Klo, heule, gehe raus zu Christian und heule noch mehr. Ich weiß nicht warum, eigentlich passiert ja nichts schlimmes, wenn ich es nicht schaffe und Christian, der die Flecken auf seinem T-Shirt kommentarlos erduldet, sagt einen Satz, der mir sehr weise erscheint: „Manchmal weiß man auch nicht, warum.“
Vielleicht liegt es an diesem Satz, vielleicht daran, dass ich stärker bin, als ich glaube, vielleicht daran, dass die vierte Etappe die härteste ist und wir es daher besonders langsam angehen lassen – jedenfalls schaffen wir sie. Wir kriechen über Passo d’Eira und Passo Foscagno, überwinden dann den Passo Gavia, bei dessen Abfahrt ich gewillt bin, um ein Mountainbike zu betteln, da die Schlaglöcher selbst für eine Mondsonde kaum zu überwinden wären und erklimmen schließlich den Passo Mortirolo. Verdutzt ist der richtige Ausdruck für mein Gefühl an diesem Tag. Ich bin ehrlich verdutzt auf jedem Gipfel, den wir erreichen und reiße völlig perplex die Arme in die Höhe, als wir nach über 9 Stunden tatsächlich die Ziellinie in Aprica überqueren. Wir haben es geschafft, 140 Kilometer und fast 4000 Höhenmeter am vierten Tag dieser Transalp.
Mittlerweile kennt uns fast jeder Teilnehmer. Weil wir immer zusammen fahren, was eigentlich kein anderes Team so konsequent tut, weil wir die mit Abstand schönsten Trikots im ganzen Feld haben (wobei wir auf den Namen „Die Haschblätter“ auch hätten verzichten können), wegen des „Rowdie“-Rufs, weil wir die Jüngsten sind und dann auch noch ein Paar. Es gibt nervige Mitfahrer („Die Ampel war rot, damit habt ihr euch keinen Gefallen getan.“) und witzige Mitfahrer („Wat will die mir denn erzählen, die soll zusehen, dat se Land gewinnt.“), doch alles in allem ist man irgendwie doch eine Truppe, zieht an einem Strang, will es schaffen.
Die drei Tage nach der Königsetappe sind landschaftlich nicht mehr so umwerfend wie die schneebedeckten Gipfel rund um Gavia und Co, mit jedem Kilometer stellt sich nun mehr das Gefühl ein, „nach Hause“ zu fahren. Der letzte Tag ist wie ein Befreiungsschlag. Die Angst, zu schnell zu fahren, um am nächsten Tag noch treten zu können, ist weg. Es sind nur 90 Kilometer und dann ist es vorbei. Geschafft. Wir überholen an diesem Tag viele, die wir vorher noch nie gesehen haben, am letzten Berg – von dem hinterher alle sagen, er sei so steil gewesen – merke ich nichts mehr. Im Stehen ziehe ich die letzten 1500 Meter hoch, voller Glück, Freude und Stolz. Selbst Christian, für den die Langeweile an diesen 7 Tagen oft ein noch größerer Gegner war als die Sonne, wundert sich, dass wir plötzlich so schnell sind. Wir rollen nach Arco und da steht er: Der letzte aufblasbare Triumphbogen der Tour, meine Arme bewegen sich von selbst nach oben.
Es gibt ein Foto dieses Augenblicks, das sehr viel über die Tour aussagt, denn ich habe mich selbst noch nie auf einem Bild so lächeln sehen. Es war nicht nur eine Grenzerfahrung, ich bin über meine Grenzen hinaus gewachsen. Bin an Punkte gekommen, die ich nicht kannte, habe neue Dinge gefühlt und mehr geleistet, als ich mir selbst zugetraut hätte. Christian neben mir zeigt auf mich, ich habe das in dem Moment nicht bemerkt, aber auch das sagt viel aus. Für uns war die Tour ein Team-Ding, er hat mich dadurch gebracht, gewartet, gelächelt, geschwiegen, gescherzt, mir Wasser gegeben und Windschatten gespendet – vor allem aber hat er mich keinen Meter geschoben. Außer diesen kleinen Hügel auf dem Weg ins Transalp-Camp am vierten Tag, aber das zählt nicht, schließlich war die Etappe da schon vorbei.
Am Montag nach der Tour sitze ich in der Uni und habe Muskelkater. Nicht in den Beinen, sondern im Kopf oder von mir aus im Herzen, wenn man es romantisieren will. Das Loch nach sieben Tagen auf 120% ist tief, während vorne irgendein Referat von medialer Berichterstattung in Kriegen berichtet, schreibe ich eine Nachricht. „Da ist das Wissen, dass manche Dinge nicht wiederkommen und die Erinnerung daran mit jedem Tag verblassen wird. Wir tragen die Spuren in uns, doch wir wissen nicht, was sie mit uns machen werden. Auf jeden Fall unterscheiden sie uns von den anderen Menschen, denen wir nun von Schlafsälen, Iso-Matten und Höhenmetern erzählen und von Pässen, die sie nicht kennen. Die wichtigsten Dinge bleiben unausgesprochen, weil es keine Worte für sie gibt.“